Chinesische Gezeitenstürme

In einer dieser Perioden zwischen den Stürmen chinesischer Gezeiten in 20. Jahrhunderts traf ich während meinem photographischen Langzeitprojekt zwischen 1988 und 1993 auf ein von der westlichen Welt weitgehend unberührtes, sanft vor sich hin gedeihendes Reich. Eine ausgenommen ruhige und friedfertige Periode. Es war aber vor allem auch ein grösser Glücksfall für mich, China und seine Bevölkerung so entspannt erleben zu dürfen, wie es wohl selten in der Geschichte dieses Riesenreiches vorkam.
Mao Zedong war seit 12 Jahren Tod und die Bevölkerung konnte für einmal relativ unbeschwert durchatmen, erlöst von Mao’s diversen Kampagnen und Visionen mit denen er das Land überzog und hoffte es damit voran zu bringen.

Aber der Reihe nach: Mit dem Ende des Kaiserreiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts erachteten Teile der chinesischen Eliten ihre eigenen, über tausende von Jahren historisch gewachsenen kaiserlichen Regierungs-Prinzpien für obsolet. In Anbetracht der eigenen, als Schwäche empfundenen Lage und der damit einhergehenden rücksichtslosen Einflussnahme westlicher Mächte in China nahm man sich diese gleichsam zum Vorbild. Das westlich geprägte dreifaltige Gedankengut, aus Republik, Kommunismus und Kapitalismus, sollte fortan das 20. Jahrhundert in China abwechselnd und im Widerstreit mit prägen und Ihre Geschichte, Ihre Gesellschaft in einen irritierenden ideologischen Gezeitensturm verwickeln. Europäisches Gedankengut, das auf Männer wie den Franzosen Maximilien Robespierre, den Deutschen Karl Marx und den Schotten Adam Smith zurückgehen.

Die vier grossen chinesischen Gezeitenstürme im 20. Jahrhundert:

Kaiserreich: Mit dem Tod der Kaiserinwitwe Cixi im November 1908 endete nicht nur ihre 47 Jahre währende Regentschaft sondern nahte auch das Ende des chinesischen Kaiserreichs. Puyi, ihr Nachfolger auf den Drachenthron war zu diesem Zeitpunkt 2 Jahre alt. Er ging in die Geschichte ein als der letzte Kaiser Chinas. Am 12. Februar 1912 musste er als Kaiser abdanken. Damit endete ein Jahrtausende altes Kaiserreich, das 221 vor Christus mit dem 1. Kaiser Qin Shihuangdi ihren Anfang nahm.
Republik: Unter Sun Yatsen, dem 1. Staatspräsidenten Chinas wurde erstmals eine Republik nach westlichem Vorbild ausgerufen. Diese währte von 1912 bis 1949. Nach dem Tod von Sun Yatsen übernahm Chiang Kai-shek das Regierungsamt. Als Parteiführer der Kuomintang bildete er mit der kommunistischen Partei unter Mao Zedong zunächst eine Einheitsfront gegen die Einflussnahme und Annexionen innerhalb Chinas durch westlichen Mächte und die Japaner. Mit dem Bruch dieser Allianz im Jahr 1927 war ein Bürgerkrieg nicht mehr zu vermeiden.
Kommunismus: Nach dem Sieg über die Kuomintang proklamierte am 1. Oktober 1949 Mao Zedong die kommunistische Volksrepublik China ebenfalls nach westlichem Vorbild. 
Mit Maos Tod 1976 kam es in den Folgejahren unter dem neuen starken Mann Deng Xiaoping im Rahmen seiner Reform- und Öffnungspolitik zu einer erneuten Abkehr, diesmal von den rein kommunistischen Prinzipien.

Kapitalismus: Wieder waren es westliche Vorbilder von denen sich China, diesmal unter Deng Xiaoping leiten liess. Unter Ihm entdeckte man allmählich die kapitalistischen Wirtschaftsmethoden. „Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache ist, sie fängt Mäuse“ war eine der pragmatischen Losungen von Deng Xiaoping. Die Verfassungsänderung vom 29. März 1993 machte aus der bisherigen Planwirtschaft eine sozialistische Marktwirtschaft.
Kaiserreich reloaded: Xi Jinping; wird er der neue Kaiser? Findet er den chinesischen Weg? Wird er den chinesischen Traum wahr machen? Ist er der, der die Zukunft Chinas aus den Erfahrungen die China im 20. Jahrhundert mit diesen Gezeitenstürmen gemacht hat, heraus destillieren kann? Die vermeintliche Essenz aus Kaiserreich, Republik, Kommunismus und Kapitalismus? Oder wird es nachfolgende Generationen brauchen, bis sich ein Prozess der Heilung, der Vernunft und ein Interesse am Gemeinwohl etablieren kann?
Fazit:
Wie immer es weiter gehen wird mit China und der Welt, solange wir die Auswirkungen der von uns favorisierten Gesellschaftsmodelle nicht auf das mit uns untrennbar symbiotisch verwobene Ökosystem abstimmen können, vernachlässigen wir die wichtigsten Wirkfaktoren und zerstören unsere eigene Lebensgrundlage für unsere kurzfristigen Ziele weiterhin bedenkenlos. Etwas das für Aussenstehende sehr schwer nachvollziehbar erscheint.